23. - 25.11.2018
Editorial
Zum 6. Mal finden die Tage des indigenen Films VOM 23. BIS ZUM 25. NOVEMBER 2018 statt. Wir freuen uns über die Zusammenarbeit mit dem li.wu. – Programmkino, indem wir die Filme dieses Mal zeigen werden.
For the 6th time, the days of the indigenous film FROM 23. TO 25. NOVEMBER 2018 will take place. We are happy about the cooperation with the li.wu. – Program cinema, by showing the films this time.
Por sexta vez, “los días de la película indígena” tendrán lugar DEL 23. AL 25. NOVIEMBRE DE 2018. Nos alegra mucho contar con la cooperación de li.wu. – Programación de cine, en donde se mostrarán las películas este año.
Programm der Filmtage 2018
Alle Veranstaltungen finden im Lichtspieltheater Wundervoll li.wu. in der Friedrichstraße 23 statt. Moderierte Diskussion im Anschluss an die Vorführungen.
Indianertümelei, Indianerfilme und Indigene Reaktionen heute
Das Phänomen der deutschen Indianertümelei („German Indianthusiasm“) ist heute vielen Indigenen Künstlern und Akademikern in Nordamerika bekannt, die sich mit hiesigen Indianerstereotypien kritisch und oft belustigt auseinandersetzen oder sich aus der Vermarktung unserer Faszination persönliche Vorteile erhoffen. Hierzu sollen im Vortrag drei Bereiche angesprochen werden: (1) Das Erbe Karl Mays und die fortwährende Präsenz oft rassistischer Klischees im Alltag; (2) Die Verbreitung stereotyper Bilder in Indianerfilmen und die Arbeiten Indigener Filmemacher heute; (3) Die Reaktionen Indigener Künstler, Akademikerinnen und Schriftsteller auf „German Indianthusiasm.“
(1) Frühe bildliche Darstellungen der neu „entdeckten“ „Wilden“ waren von mittelalterlichen Vorstellungen vom „Wilden Mann “ (einem halbnackten Kannibalen am Rande der Zivilisation) geprägt. Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts und nachhaltig mit den Werken Karl Mays verfestigte sich bei uns das Bild des reitenden, federgeschmückten Büffeljägers als Indianerbild schlechthin, welches bis heute viele deutsche Menschen fasziniert, die eine besondere Affinität zwischen sich und den Indigenen Völkern Nordamerikas zu erkennen glauben.
(2) In Hollywood- und oft auch in deutschen Indianerfilmen wurden gängige Indianer-Klischees stereotyp wieder und wieder verbreitet, so dass sie die Wahrnehmung Indigener Menschen in Nordamerika als Mitmenschen und Zeitgenossen verzerrten und oft ganz verhinderten, denn wer gelernt hat, dass „Indianer“ aussehen wie Winnetou (oder Gojko Mitic oder Pierre Brice) , kann alle Jene, die eben nicht so aussehen, nicht als Indigene erkennen. Gegen diese Nicht-Wahrnehmung ihrer selbst als Individuen und Zeitgenossen, kämpfen Filme Indigener Filmemacher an, indem sie den Zuschauern Indigene Mitmenschen als Individuen in historischen oder zeitgenössischen Kulturen näher bringen.
(3) Manche Indigenen Kulturschaffenden setzen sich in ihren Werken direkt und kritisch mit „German Indianthusiasm“ auseinander. Interviews mit Indigenen Schriftstellerinnen, Akademikern und Künstlern aus Kanada, die Deutschland aus Reisen und persönlichen Kontakten kennen, zeigen oft überraschende Ergebnisse zwischen Kritik, Belustigung, Verständnis und Empathie. Sie ermöglichen uns Einsichten in „deutsche Kultur“ und ebnen den Weg für eine direkte Kommunikation zwischen Gleichberechtigten beiderseits des Atlantiks.
Auf den Kinoleinwänden und Fernsehbildschirmen kämpfen blutrünstige Indianer gegen draufgängerische Cowboys, edle Wilde behaupten sich heroisch gegen Siedler, mit Häuptlingen werden Friedenspfeifen geraucht und die Herzen von Indianerprinzessinen von weißen Männern erobert. Solche Stereotype bestimmen das Bild von Native Americans in der über hundertjährigen Filmgeschichte Hollywoods. In Deutschland fügen sie sich in das Indianerbild der Karl-May-Romane und Winnetou-Filme ein, aus denen sich wiederum das amerikanische Kino bediente.
Der Regisseur Neil Diamond zeichnet in seiner Langfilm-Dokumentation REEL INJUN die Geschichte des Hollywood-Indianers nach und hinterfragt die Klischees, die sie erschaffen.
Er begibt sich auf einen Roadtrip zu bedeutenden Orten der nordamerikanisch-indigenen Geschichte und bereist Kulissen der Hollywood-Western-Klassiker. Dabei trifft er Akteurinnen und Akteure, die den „Indianerfilm“ in den letzten Jahrzehnten geprägt oder kritisch begleitet haben, sowie indigene Filmschaffende, die ein selbstbestimmtes indigenes Kino dagegenhalten und damit die „Renaissance of Native cinema“ einleiten.
Diamonds Reise führt ihn u.a. in die abgelegene Stadt Igloolik, wo er den Inuit-Regisseur Zacharias Kunuk besucht, dessen Film ATANARJUAT ebenfalls auf den Tagen des indigenen Films gezeigt wird. Zu den Interviewten gehören auch die Bürgerrechtlerin und Schauspielerin Sacheen Littlefather, der italoamerikanische Schauspieler Iron Eyes Cody, der sich in der Rolle eines Native American eine neue Identität gab, und die weißen Filmemacher Jim Jarmusch und Clint Eastwood, die über ihren Umgang mit den Erwartungen Hollywoods an „Indianerfilme“ berichten.
Mit Ausschnitten aus 100 Kino- und Fernsehfilmen wird die Filmgeschichte von der Ära des Stummfilms bis zur Gegenwart in knapp neunzig Minuten aus einer ungewohnten Perspektive neu erzählt. Die Anekdoten der Beteiligten, die oft bitter und lustig zugleich sind, machen REEL INJUN zu einer gleichermaßen lehrreichen und unterhaltsamen Dokumentation.
Der kanadische Filmemacher Neil Diamond ist Angehöriger der Cree, eine der größten indigenen Gruppen Nordamerikas. Er erzählte, dass er als Kind mit seinen FreundInnen unter dem Eindruck von Westernfilmen selbst Cowboy und Indianer spielte und sie dabei trotz ihrer indigenen Identität den von Hollywood geprägten Bilder nacheiferten. Da er auch später immer wieder mit den Indianervorstellungen Hollywoods konfrontiert wurde, beschloss er sie filmisch aufzuarbeiten.
REEL INJUN feierte 2009 auf dem Toronto International Film Festival seine Prämiere und lief unter anderem im kanadischen Fernsehen und im Museum of Modern Art in New York.
Das 9-jährige Waisenkind Shula wird nach einem unbedeutend scheinenden Vorfall von den BewohnerInnen ihres Dorfes im ländlichen Sambia der Hexerei bezichtigt und nach kürzester Zeit von der lokalen Polizei für schuldig erklärt; diese unternimmt nichts, um das Mädchen zu schützen. Sie wird ihres Dorfes verwiesen und in die Obhut eines korrupten Regierungsbeamten übergeben. Dieser bringt sie in ein Hexen-Camp, in dem sie, als einziges Kind, zusammen mit anderen zu Hexen erklärten Frauen leben soll. Die Camp-Bewohnerinnen werden mit Schleifen verankert und es wird ihnen erzählt, dass sie verflucht und in eine Ziege verwandelt werden, sollten sie deren Bänder durchtrennen. Im Camp werden sie zum Arbeiten gezwungen und ihre vermeintlichen magischen Kräfte zur Schau gestellt, was unter anderem die Begierde von europäischen TouristInnen nach dem Exotischen befriedigen soll. Shula passt sich dem Alltag im Camp an, doch ihr Drang nach Freiheit stellt sich der Aufforderung entgegen, sich mit ihrem Schicksal abzufinden.
I AM NOT A WITCH ist ein Spielfilm, der mit Ironie, Übertreibungen und Elementen des Magischen Realismus Gesellschaftskritik übt. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf modernen Hexereivorstellungen und Hexenjagden. Die Filmemacherin Rungano Nyoni, selbst in Sambia geboren und in Wales aufgewachsen, verbrachte einige Zeit in einem Hexen-Camp in Ghana und lässt ihre Begegnungen mit dem Alltag der dort lebenden BewohnerInnen in den Film einfließen. Die Perspektive betroffener Frauen stellt der Film in den Mittelpunkt. Er thematisiert das System der Hexereibeschuldigungen, mit dem lokale Konflikte verhandelt werden, an dem die Regierung mitverdient und in dem sich betroffene mit ihrem Schicksal arrangieren, um zu überleben. Die Sprachlosigkeit der Protagonistin verdeutlicht, dass - anders als der Filmtitel suggeriert - das Abstreiten sozialer Zugschreibungen oftmals keine Option ist. Darüber hinaus werden sensationsgetriebene Medien, die Sehnsucht von TouristInnen nach dem Exotischen, sowie die Korruption des Staatsapparates thematisiert – und damit das Zusammenspiel verschiedener Akteure, die sich auf Kosten marginalisierter Personen bereichern.
Shula und die anderen ProtagonistInnen werden durch LaiendarstellerInnen gespielt, was die sozialen Interaktionen besonders überzeugend macht.
I AM NOT A WITCH ist Nyonis erster Langfilm, mit dem sie 2017 beim Cannes Film Festival und 2018 mit einem BAFTA geehrt wurde. Der Film wird in den Originalsprachen Nyanja und Englisch gezeigt.
Der Fährmann Gulzar wohnt in einer Pfahlsiedlung direkt auf dem Bergsee Dal, einst bekannt als „Kronjuwel Kaschmirs“. Da Armut, politische Spannungen, Krieg und Terrorismus seine Heimat prägen, plant er zusammen mit seinem Freund Afzal nach Delhi zu fliehen, doch eine vom Militär verhängte Ausgangssperre kommt ihnen in die Quere. Als Gulzar die Wissenschaftlerin Asifa kennenlernt und beschließt, ihr trotz der Ausgangssperre bei der Erforschung des Sees zu helfen, wird die Freundschaft der beiden Männer auf die Probe gestellt. Gulzar muss sich entscheiden: Versucht er in der Großstadt sein Glück oder bleibt er in seiner Heimat, um gegen die Umweltverschmutzung zu kämpfen, die die traditionelle Lebensweise in seinem Dorf bedroht?
VALLEY OF SAINTS verbindet Spielfilm und Dokumentation. In einer klassischen Erzählung über Freundschaft, Liebe und Eifersucht wird das Dilemma zwischen sozialen Verhältnissen und ökologischer Verantwortung eingebettet. VALLEY OF SAINTS zeigt auf, dass in der Debatte um Nachhaltigkeit der limitierende ökonomische Faktor zentral ist: die lokale Gemeinschaft allein kann nicht die - wirtschaftliche wie moralische - Verantwortung für den Zustand der dortigen Natur tragen. Oft wird aus Perspektive von Industrienationen von indigenen Gemeinschaften erwartet, eine destabilisierte Umwelt selbst wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Doch u.a. die Armut eben dieser Gemeinschaften - herbeigeführt durch ihre systematische ökonomische Ausbeutung - macht dies unmöglich.
Der Dal-See befindet sich neben der Millionenstadt Srinagar, Hauptstadt des nördlichsten indischen Bundesstaates Kaschmir, im Himalaya. Die idyllische und kühle Lage des Sees machte ihn zu einem beliebten Sommersitz der Herrscher der Mogul-Dynastie und der britischen Kolonisatoren. Unweit befinden sich wichtige Heiligtümer, sowohl des Islam als auch des Hinduismus. Seit der Staatsgründung Pakistans 1947 kam es hier immer wieder zu militärischen Auseinandersetzungen. Die letzte kriegsähnliche Eskalation des Kaschmir-Konflikts ist keine 20 Jahre her. Indien, Pakistan und China erheben Gebietsansprüche auf Teile der Region. Terroristische Gewalt ist andauernde Realität in Kaschmir, der seit dem Jahr 2000 über 20.000 Menschen zum Opfer fielen.
Der Filmemacher Musa Syeed stammt von Kaschmiris ab, die noch vor seiner Geburt in die USA migrierten. Syeed kannte das Kaschmirtal als Sehnsuchtsort seiner Eltern. Als er selbst die Region bereiste, nahm er wahr, wie der Dal-See heute als touristische Attraktion und Kulisse für Bollywood-Filme genutzt wird. Er lebte einige Zeit in einem Pfahldorf auf dem See und beschloss mit lokalen LaiendarstellerInnen einen Film zu drehen. Der Hauptdarsteller Gulzar Ahmed Bhat ist auch in seinem echten Leben Bootsmann.
Die politische Situation vor Ort prägte die Dreharbeiten. Das Filmteam war mit einer plötzlichen Ausgangssperre konfrontiert, die spontan in das Drehbuch eingearbeitet wurde.
Sie mussten mit möglichst kleiner Besetzung drehen, um wenig Aufmerksamkeit zu erzeugen.
Der Film wird in der Originalsprache Kaschmiri mit Untertiteln gezeigt.
Workshop Making-of: Coming of Age
Edkins, dessen Mutter Deutsche ist und dessen Vater Südafrikaner, wuchs in Lesotho und Südafrika auf. Er studierte Kunst an der Universität Kapstadt, konnte dann durch ein Stipendium zwei Jahre lang in Le Fresnoy, dem Studio National des Arts Contemporains, in Tourcoing im Norden Frankreichs als Artist in Residence arbeiten. Diesem Stipendium folgte ein Postgraduierten-Studium an der dffb Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin in Berlin.
Er führte bis heute Regie bei 11 Kurz- und Langfilmen, welche auf über 350 Filmfestivals und in Museen gezeigt wurden, bspw. Der Berlinale, der Tate Gallery oder dem Centre Pompidou, und gewann zahlreiche Preise. Seine Filme wurden auch in private Sammlungen aufgenommen wie die Sammlung Goetz in München. Derzeit lebt er in Berlin und Kapstadt.
2017: I am Sheriff, 28”min
2016: Initiation, 11’min
2015: Coming of Age, 63’min
2013: Gangster Backstage, 38’min
2011: Gangster Project, 54’ min
2011: Thato, 27’ 35” min
2008: Kinshasa 2.0, 11’07” min
2006: Gangster Project 1, 7’30” min
2005: True Love, 28’ min
2005: Looking Good, 47’ min
2004: Ask Me I'm Positive, 48’ min
Der Dokumentarfilm COMING OF AGE begleitet vier Jugendliche aus dem abgelegenen Bergdorf Ha Sekake im Königkreich Lesotho für zwei Jahre beim Erwachsenwerden.
Nach dem Abschluss der Dorfschule muss sich Lefa entscheiden, ob sie das Dorf verlässt, um anderswo die Chance auf eine höhere Schulausbildung zu haben. Ihre Freundin Senate hat die Entscheidung bereits getroffen, was Lefas Welt ins Wanken bringt. Der 15-jährige Retabile geht jedes Jahr zusammen mit seinem jüngeren Bruder Mosaku für acht Monate in die Berge, um die Schafherde seiner Familie durch den Winter zu bringen. Er trägt damit die Verantwortung für den Familienbesitz. Dieses Mal wird er in einem Initiationsritual in die Welt der Erwachsenen eingeführt.
COMING OF AGE ist ein ruhiger Film, der die Jugendlichen zurückhaltend begleitet. Es passieren keine spektakulären Ereignisse, doch für die Jugendlichen geht es um viel. Sie müssen früh Entscheidungen treffen, die ihr ganzes Leben prägen werden. Die Bindungen zur Familie und zu den Freundinnen und Freunden stehen auf dem Spiel.
Der Film zeigt auf sensible Weise, was es bedeutet ein vermeintlich "einfaches Leben“ zu führen. Die Arbeitsweise des Filmemachers Teboho Edkins lässt den Vorstellungen, Wünschen und Sorgen der ProtagonistInnen viel Platz. So wird in etwas mehr als einer Stunde Dokumentation der Blick der Jugendlichen auf ihr eigenes Leben erfahrbar, ohne dass die cinematografische Konstellation distanzlos und damit übergriffig wird.
Alltag ist auch dort, wo vermeintlich wenig passiert, komplex und wirkt mitunter magisch. Die ZuschauerInnen werden dazu eingeladen, dass dörfliche Leben in der Peripherie neu zu fassen. Die szenischen Bilder geben wundervolle Eindrücke von einer recht unbekannten Region - dem durch Gebirge und Hochebenen geprägten südafrikanischen Lesotho. Das Königreich ist in etwa so groß wie Belgien und komplett vom wohlhabenderen Südafrika umschlossen. Ein Großteil der ethnisch homogenen Bevölkerung lebt in Bergdörfern – in eines von ihnen gibt COMING OF AGE Einblicke.
Der Regisseur ist selbst überwiegend in Lesotho aufgewachsen. Seine Film-Ausbildung führte ihn nach Südafrika, Frankreich und Deutschland. Er lebt heute in Berlin. 2015 machte COMING OF AGE auf der Berlinale auf sich aufmerksam. Zudem wurde er als Bester Film auf dem Trento Film Festival ausgezeichnet.
Die Stadt Arlit im Norden des westafrikanischen Landes Niger galt einst als zweites Paris: Gut verdienende ArbeiterInnen, ein betriebsamer Flughafen und ein reges Nachtleben am Rand der Sahara. Heute, 50 Jahre nachdem französische Firmen eine Uranmine erschlossen und unmittelbar neben ihr eine stets wachsende Arbeitersiedlung aus dem Boden stampften, sind viele ihrer BewohnerInnen mit Krankheit, Armut und Perspektivlosigkeit konfrontiert. Zugleich ist Arlit für afrikanische MigrantInnen zum Ausgangspunkt zur Sahara-Durchquerung auf dem Weg nach Europa geworden.
Der beninische Filmemacher Idrissou Mora Kpai begleitet den alten Issa in seine ehemalige Heimatstadt. Issa erkennt sein früheres zu Hause kaum wieder, doch für seinen Sohn ist das neue Arlit zur Heimat geworden. Verschiedene BewohnerInnen erzählen, was sie in die Stadt trieb und wie diese zu dem wurde, was sie heute ist. Sie berichten von der Zeit, als sie in den Minen gutes Geld verdienten - ohne zu ahnen, wie gesundheitsgefährdend ihre Arbeit mit dem radioaktiven Rohstoff war. Nach dem Verfall des Uranpreises und Aufständen der einheimischen Tuareg in den 1980er Jahren war die wirtschaftliche Blütezeit Arlits vorbei und viele verloren ihre Stellen. Doch kontaminierte Erde umgibt die Stadt bis heute und macht viele ihre BewohnerInnen krank. Radioaktives Metall wird vom Atomkonzern als Baumaterial verschenkt. Bis heute erklären die Ärzte im vom Urankonzern finanzierten Krankenhaus, die vielen Krebserkrankungen und Todesfälle stünden nicht mit den Uranminen in Zusammenhang.
Zugleich ist die Stadt heute voller Menschen, die getragen sind von der Hoffnung, eines Tages in Europa ein besseres Leben zu beginnen. Schmuggler erzählen offen von ihrem Geschäft, MigrantInnen von den Behörden unbemerkt nach Algerien zu bringen. Reisende auf dem Weg nach Norden, die in der Sahara aufgegriffen werden, müssen nach Arlit zurückkehren. Doch Mora Kpai trifft auch auf innerafrikanische MigrantInnen, die in Arlit bleiben wollen, wenn sich ihnen dort eine wirtschaftliche Perspektive bietet.
Idrissou Mora Kpail lässt die StadtbewohnerInnen selbst sprechen und verzichtet auf erklärende Kommentare. Lange Kamerafahrten geben einen Eindruck von dem Ausmaß des Uranabbaus und einer in Europa weitgehend unbekannten Stadt, die durch die im Film angesprochenen Themen Ressourcenausbeutung, Umweltzerstörung und Migrationsbewegungen in Richtung Norden mit Europa verbunden ist - heute vielleicht noch mehr als zu Zeiten der Dreharbeiten.
Vor der Filmpremiere 2005 lag Arlit wirtschaftlich am Boden. Der Uranabbau wurde stark gedrosselt und niemand wusste, ob die Mine nicht bald ganz stillgelegt werden würde.
2010 entführte Al-Quaida Mitarbeiter des französischen Atomkonzerns AREVA. Unter Einfluss der französischen Regierung schloss AREVA 2014 mit der Regierung des Niger einen neuen Vertrag zum weiteren Uranabbau ab, wodurch sich der Staat 100 Mio. Euro Steuermehreinnahmen sicherte.
Regisseur Idrissou Mora-Kpai, aufgewachsen in Benin, lebte in Algerien, Italien und Deutschland bevor er in Frankreich seine eigene Produktionsfirma gründete, mit der er ARLIT produzierte. ARLIT wurde unter anderem auf den Filmfestivals in Rouen (Frankreich), Tarifa (Spanien) und Ouidah (Benin) als beste Dokumentation ausgezeichnet.
Obwohl im Jahr 1953 die jahrhundertelange dänische Kolonialherrschaft in Grönland offiziell endete, bestimmte auch noch in den nächsten Jahrzehnten Dänemark maßgeblich die dortige Politik und den Alltag der GrönländerInnen. Doch dagegen formierte sich Widerstand. Die Protestbewegung der 1970er Jahre erreichte auch Grönland und fand dort durch die Band Sumé ihren musikalischen Ausdruck. Sumé wagte es 1973 als erste grönländische Band in ihrer Muttersprache Kalaallisut statt auf Dänisch zu singen. Sie forderte in ihren Texten die Unabhängigkeit vom dänischen Königreich und rief die Bevölkerung zur Rückbesinnung auf die indigene Identität auf. Nach kurzer Zeit besaß ein Fünftel der rund 50.000 GrönländerInnen ihr Debüt-Album. Ihre Stücke veränderten die grönländische Sprache, in die sie Worte für „Unterdrückung“ und „Revolution“ einführte.
Die Band existierte drei Jahre lang, innerhalb derer sie drei Alben veröffentlichte. Sie tourte durch entlegene Orte ihres Landes, durch Skandinavien und kam sogar bis nach Ost-Berlin. Trotz ihres kurzen Bestehens gilt die Band noch heute als Pionier des Greenlandic Rock und als Symbol der grönländischen Forderung nach Eigenständigkeit. Nachdem sich die Band aufgelöst hatte, brach der entfachte Protest nicht ab und es wurde erreicht, dass Ende der 1970er Jahre ein Autonomiegesetz in Kraft trat, welches Grönland innenpolitische Selbstverwaltung zusagte. Mitte der 1980er Jahre erwirkten die GrönländerInnen die Souveränität über ihre Gewässer und Bodenschätze.
Der Regisseur Inuk Silis Høegh arbeitet, neben der Filmkunst, auch bildender Künstler und beschäftigt sich seit zwei Jahrzehnten in seinen Werken mit der grönländischen Identität. Er wuchs mit der Musik von Sumé auf und seine Eltern erzählten ihm über deren revolutionäres Wirken. Durch die Montage von historischem Archivmaterial und aktuellen Interviews der AkteurInnen und Fans gelang ihm mit SUMÉ der erste international anerkannte Dokumentar-Langfilm aus Grönland.
Der Film spricht an, dass Grönland in letzter Zeit vor allem dafür mediale Aufmerksamkeit erhält, dass die Folgen des Klimawandels dort schon jetzt deutlich spürbar sind. Weniger bekannt ist, dass die Unabhängigkeit Grönlands bis heute nicht vollständig erreicht ist – denn es gilt offiziell noch immer als Bestandteil des Königreichs Dänemark. Da die aktuelle Regierung die vollständige Unabhängigkeit bis 2021 anstrebt, ist SUMÉ - THE SOUND OF A REVOLUTION, der 2014 erschien und innerhalb eines Monats von jeder fünften Grönländerin und jedem fünften Grönländer gesehen wurde, ein Statement zur politischen Zukunft des Landes.
Der Film wird in grönländischer und dänischer Originalsprache mit deutschen Untertiteln gezeigt.
Urbanisierung in China: Künstlerische Wahrnehmung, Repräsentation und Kritik
Nach einer kurzen Einführung in die aktuelle Urbanisierungspolitik der chinesischen Regierung und deren Auswirkungen auf vor allem ländliche durch Nomadenkultur geprägte Gebiete, sollen Perzeptionen und Repräsentationen von Urbanisierung in der chinesischen Gegenwartskunst und dem Film RIVER ROAD von Li Ruijun beleuchtet werden. Ausgehend von einem traditionellen Naturverständnis, wie es sich in chinesischer Philosophie und kosmologischen Konzepten spiegelt, wird aufgezeigt, dass die heutige Urbanisierung in der Kunst durchaus ambivalent und mit einem Gefühl der Verunsicherung und Angst betrachtet wird. Dies betrifft den Umgang mit Natur und Mensch als auch die Kultur der Nomaden, die durch chinesische Zivilisation und Modernisierung zerstört werden. Das Bild einer besseren, da intakteren und daher humaneren Welt der Nomaden wird durch den Einfluss der Han-Chinesen und deren Kulturverständnis zunichte gemacht.
Im Nordwesten Chinas, südlich der Mongolei, liegt die Provinz Gansu. Hier begann einst die antike Seidenstraße. Heute leben die beiden Brüder Bartel und Adikeer hier das Jahr über in der Stadt, während ihr Vater in der Hochebene Schafe hütet. Doch in diesem Sommer holt er sie nicht wie gewohnt ab. Als ihr Großvater plötzlich stirbt, begeben sie sich auf die Rücken ihrer Kamele und folgen einem ausgetrockneten Flussbett, um draußen in der Wüste ihren Vater zu suchen.
RIVER ROAD porträtiert die Rivalität der beiden Geschwister untereinander und zeigt die beeindruckenden Landschaften, die die beiden durchreisen. Der Film thematisiert dabei die Beziehung der Menschen zu dem Land, das sie umgibt, und dessen Einfluss auf die Familienstrukturen. Es wird deutlich, wie die lokalen Auswirkungen der Globalisierung und des Klimawandel die Grundlagen der nomadischen Lebensweise in Gansu bedrohen.
Aus der Perspektive der Jungen werden Einblicke in die gegenwärtige Lebenssituation der Yuguren möglich, einer der kleinsten ethnischen Minderheiten Chinas. Die Kinder sprechen Yohur, eine Turksprache mit aktuell rund 4.600 MuttersprachlerInnen. Die beiden jungen Hauptdarsteller lernten mit Hilfe von Audioaufnahmen älterer Yuguren ihre Texte ein, was verdeutlicht, dass die Zahl der aktiven SprecherInnen von Generation zu Generation geringer geworden ist.
Der junge Filmemacher Li Ruijun kommt selbst aus Gansu. Ihm zufolge werden die kulturellen Eigenarten der Yuguren in seiner Heimatprovinz seltener wahrnehmbar, da sie sich zunehmend in der chinesischen Mehrheitsgesellschaft auflösten. RIVER ROAD erhielt große internationale Aufmerksamkeit durch Erfolge auf Film-Festivals in Tokio, Hongkong, Berlin und Colombo. Er erreichte dennoch kein großes Publikum in China, da viele Kinos zögerten, den für den dortigen Markt ungewöhnlichen Film in ihr Programm aufzunehmen.
In den Arktis-Gebieten des heutigen Kanadas wird die Macht zwischen zwei rivalisierenden Inuit-Familien neu ausgehandelt. Der Protagonist Atanarjuat - der schnelle Läufer - steht im Mittelpunkt von Intrigen, denn er wirbt erfolgreich um die begehrte Atuat, die eigentlich Oki, dem Sohn des Anführers, versprochen wurde. Okis Schwester Puja möchte Atanarjuat für sich haben und zettelt einen Streit zwischen ihm und seinem Bruder an. All dies mündet in einer abenteuerlichen Verfolgungsjagd, bei der Atanarjuat gezwungen ist, völlig nackt durch Schnee und Eis zu flüchten. Die Geschichte spielt in der Zeit vor der europäischen Besiedlung Nordamerikas und basiert auf einer alten Legende der Inuit, die seit Generationen mündlich weitergegeben wird.
ATANARJUAT ist das Debut des heutigen Oscar-Academy-Mitglieds Zacharias Kunuk. Er gründete die erste von Inuit geführte Filmproduktionsfirma und produzierte mit ihr den ersten Spielfilm, der komplett in der Sprache Inuktitut geschrieben und gedreht wurde.
ATARNAJUAT ist ein herausragendes Beispiel für einen mitreißenden Spielfilm, der sowohl vor als auch hinter der Kamera konsequent die Perspektiven indigener AkteurInnen abbildet und dabei die Sehgewohnheiten der ZuschauerInnen herausfordert. Der bedachte Einsatz von Worten lässt viel Raum für die Entfaltung der Lebensrealitäten der ProtagonistInnen im Bild.